Autopoiesis
Der Begriff Autopoiesis bzw. Autopoiese ist mit der Annahme verbunden, dass Lebewesen nach Maturana und Varela lebende Systeme (Lebewesen, Tiere, Menschen etc.) sind, die sich selber erzeugen und anpassen kann. Dieser aus dem griechischen (altgriech. αυτος „selbst“ und ποιεω „schaffen, bauen“) stammende Begriff meint so viel, wie sich selber machen, Selbsterzeugung bzw. Selbsterhaltung. Dagegen steht zum Beispiel der Motor eines Fahrzeuges, eine allopoietische Maschine, die nach Plänen ihrer Entwickler bzw. Betreiber etwas herstellen.
Obwohl lebende Systeme bzw. Lebewesen von ihrer Umwelt abhängig sind, sind sie in gewisser Weise, durch ihre Anpassungsfähigkeit und Fähigkeit der Veränderung von sich selbst und der Umwelt, unabhängig und autonom. Dies besagt nicht, dass das System allein aus sich heraus, aus eigener Kraft, ohne jeden Beitrag aus der Umwelt existiert. Durch die autopoietische Organisationsweise (Geschlossenheit), wird der Kontakt zur Umwelt, in dieser sich wechselseitig verändernden Offenheit erst möglich, jedoch von dem System selbst bestimmt. Auch wenn viele Erziehende dies nicht wahrhaben wollen, so können äußere Einwirkungen lebende Systeme nur anregen, stören oder „perturbieren“. So ist Ludwig Liegle zuzustimmen, wenn er Selbstbildung als autopoietischen Prozess beschreibt. Der Begriff Autonomie verdeutlicht nochmals die Fähigkeit, in gewisser Weise die Regeln und „Gesetze“ des eigenen Lebensprozesses selbst zu bestimmen und zu verändern. Zum Konzept der Autopoiesis gehören noch weitere zentrale Grundbegriffe:
- Die Strukturdeterminiertheit: Es ist die Struktur des Lebewesens, die äußere Einwirkungen nach eigenen Gesetzen verarbeitet und nicht z.B. die Intensität des Reizes. Extrinsische Motivation bleibt so ein Zufall. (Deshalb können wir nur sagen: Erziehung wirkt, aber bewirkt nicht) Der Begriff der Strukturdeterminiertheit wird anschaulich in der Metapher, über die Hunde- und die Steinewelt, von Gregory Bateson deutlich.
- Die Selbstreferentialität: Damit wird die Fähigkeit jedes Lebewesens bzw. lebenden Systems bezeichnet, einen Bezug zu sich selbst in Abgrenzung zur Umwelt herzustellen. Ob die Grenzen des Systems, offen (relativ durchlässig) oder geschlossen (relativ undurchlässig) sind, werden folglich von dem lebenden System (Lebewesen) selbst festgelegt.
- Die operative Geschlossenheit: Lebewesen verfügen über keine Fenster und Türen durch die etwas ein- oder heraustreten kann. Sie sind „operational“, in sich abgeschlossene Systeme. Folglich ist es auch richtiger, anstatt von der Wahrnehmung, von der Wahrgebung zu sprechen.
- Die strukturelle Kopplung zur Umwelt: Lebewesen sind nicht nur „autonom“, „strukturdeterminiert“ oder „operational geschlossen“, sondern darüber hinaus dynamisch. Dies liegt daran, dass das lebende System im Austausch mit seiner Umwelt steht und dabei seine Außenkontakte jeweils selbst auswählt.
Sicherlich geschehen Selbstbildungsprozesse, Persönlichkeitsentwicklung und autopoietische Prozesse nicht im luftleeren Raum, sondern nehmen ihre Gestalt in Wechselwirkungen an. Mir geht es vielmehr darum, klarzustellen, das die vorrangige Annahme der Bewirkung auf den Menschen hinterfragt wird und damit sich die Hybris der "Pädagoginnen und Pädagogen" in eine sinnvolle Expertise verwandelt.
Denn nicht nur die vorherigen Ausführungen machen deutlich, dass die von Anke König in ihrem Buch, "Interaktion als didaktisches Prinzip" (2012) angeführte Verschiebung von Selbstbildung als Mittelpunkt und selbst-initiiertem Bildungsprozess, hin zu einem „ko-konstruktiv“ motivierten Bildungsverständnis eher Machtphantasien entspringt als der Realität. Zu behaupten, „Bildungsprozesse gehen nicht in erster Linie vom Individuum selbst aus, sondern verlaufen über den Kontakt zu anderen“ (ebd. S. 16), ignoriert z.B. sämtliche Erkenntnisse über den Spracherwerb, das Spielen von Kindern und informellem Lernen. Tragisch ist, dass es in der Erziehungsbranche allzu gern so vermittelt und gesehen wird. Nur zu ungern verlässt man die behavioristisch geprägten Glaubenssätze und lässt sich auf nicht garantierte Bildungs- und Erziehungsprozesse ein. Es wird wieder deutlich, wie gern Bildung missverstanden wird, als etwas, was in Wissenshäppchen (Wahre), wenn auch Ko-Konstruktiv, verabreicht bzw. vermittelt werden kann. Ein buntes Treiben, was so manchem Bildungsexperten nicht wenig Geld einbringt, Eltern verunsichert und Kinder am freien Spielen hindert, aber dort scheinen sie ja auch nichts zu lernen. Welches fragwürdige Bild vom Kind dahinter steht, wird an anderer Stelle noch zu klären sein.
Für alle, die bereits hier ihre Perspektive erweitern wollen, sei auf folgende drei Bücher verwiesen:
Freerk Huisken: Die Wissenschaft von der Erziehung. Einführung in die Grundlügen der Pädagogik. Hamburg 1991;
Rudi Palla: Die Kunst, Kinder zu kneten. Ein Rezeptbuch der Pädagogik. Frankfurt am Main 1997;
Rolf Arnold: Erziehung durch Beziehung. Plädoyer für einen Unterschied. Bern 2016.
Manuel Bartelmess: Die systemische Haltung. Was systemisches Arbeiten im Kern ausmacht. Göttingen 2016.
Für ein ergänzendes Verständnis möchte ich auf folgende Links verweisen:
http://lexikon.stangl.eu/2312/autopoiese/ (Stand 01.09.2018)
https://www.thur.de/philo/asap.htm (Stand 08.10.2017)
(Jörg Kettner 12.09.2018)
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